Evidenz und Eminenz


Dr. med. Peter Stiefelhagen, Hachenburg

Deutschland ist zur Zeit das einzige Land, was den Begriff „evidenzbasierter Leitlinien” in das Sozialgesetzbuch aufgenommen und somit das Gesundheitswesen zur Anwendung von Prinzipien der evidenzbasierten Medizin gesetzlich verpflichtet hat.

Keine Frage, die evidenzbasierte Medizin soll und wird eine zentrale Rolle bei dem sich im deutschen Gesundheitswesen vollziehenden konzeptionellen Wechsel von einer allein an der Wirksamkeit orientierten zu einer vermehrt an Nutzen und Zweckmäßigkeit orientierten Medizin spielen. Ziel soll es sein, die Zuverlässigkeit, Praktikabilität und Anwendbarkeit medizinischen Wissens auf den individuellen Patienten zu überprüfen. Doch wer die aktuellen wissenschaftlichen Diskussionen in Medien und auf Kongressen verfolgt, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses durchaus notwendige und sinnvolle Prinzip mittlerweile überstrapaziert, um nicht zu sagen ad absurdum geführt wird.

Bei Studien wird der Rekrutierung einer Patientenpopulation nach definierten Ein- und Ausschlusskriterien und ihrer Randomisierung in zwei oder mehrere Gruppen höchster Stellenwert eingeräumt. Folge ist, dass aus klinischer Sicht vielen dieser Studien die klinische Relevanz fehlt. Statt auf individuelle Varianzen wird auf zentrale Tendenzen Wert gelegt, also auf artifizielle kontextblinde Studienbedingungen und ein enges Patientenspektrum. Darüber hinaus werden häufig Surrogatparameter statt Patienten-/Populations-relevante Endpunkte definiert, Risiken und Nebenwirkungen systematisch unterschätzt und Patientenpräferenzen zu wenig berücksichtigt. Dazu kommt das zeitliche begrenzte Follow-up und die Tatsache, dass meist Einzelmedikamente statt der im Alltag erforderlichen Komplextherapie untersucht werden.

Ein typisches Krankheitsbild, bei dem wegen seiner Komplexität und der häufigen Komorbidität eine Behandlung nach evidenzbasierten Kriterien nur selten möglich ist, ist der Diabetes mellitus. Paradoxerweise wurde aber gerade diese Erkrankung ausgesucht, um im Rahmen von Disease-Management-Programmen die Behandlung nach strengen Kriterien zu strukturieren. Dass dies nicht immer möglich ist, zeigt eine Studie, die im Rahmen der diesjährigen Jahrestagung der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (4. bis 7. Mai 2005 in Berlin) vorgestellt und diskutiert wurde [W. Häusler et al., Dtsch Med Wochenschrift 2005;130:1069–73]. Alle innerhalb von 2 Monaten in zwei großen medizinischen Kliniken der Maximalversorgung aufgenommenen Typ-2-Diabetiker wurden erfasst und dahingehend überprüft, inwieweit die evidenzbasierten Leitlinien der Deutschen Diabetes-Gesellschaft zur antihyperglykämischen Therapie anwendbar sind, wenn gleichzeitig eine Herz-, Leber- oder Nierenerkrankung oder ein Lebensalter > 75 Jahre vorliegt. Das Fazit der Studie lautet kurz: Eine Behandlung dieser Patienten basierend auf Studien der Evidenzstärken I bis III ist nicht möglich.

Dieses Ergebnis unterstreicht, dass die offiziellen Therapieempfehlungen bei Typ-2-Diabetikern nicht unter allen Umständen zweckdienlich genutzt werden können, sondern der Arzt beim einzelnen Patienten individuell entscheiden muss. Mit anderen Worten, wo die Wissenschaft an ihre Grenzen stößt, ist Empirie und Intuition gefragt. Doch gerade diese unverzichtbaren Merkmale ärztlicher Tätigkeit werden heute häufig als Beliebigkeit disqualifiziert, als unwissenschaftliches Handeln diffamiert und als eminenzbasierte Medizin sogar verspottet, und dies, obwohl die klinische Expertise gerade bei älteren multimorbiden Patienten oft entscheidender ist als die schwache externe Evidenz.

Von vielen, die die evidenzbasierte Medizin wie eine Ideologie propagieren, wird vergessen, dass bereits Sackett, einer der Väter der evidenzbasierten Medizin, die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung als Grundlage gefordert hat. Er verstand unter individueller klinischer Expertise das Können und die Urteilskraft, die Ärzte durch ihre Erfahrung und ihre tägliche Praxis erwerben. Sie spiegele sich, so Sackett, auf vielerlei Weise wider, besonders aber in der mitdenkenden und -fühlenden Identifikation und Berücksichtigung der besonderen Situation und der Rechte und Präferenzen von Patienten bei der klinischen Entscheidungsfindung im Rahmen ihrer Behandlung. Ich glaube, es ist notwendig, im Zeitalter von DMP, DRG, integrierter Versorgung etc., also von Versorgungsstrukturen, mit denen die Behandlung komplexer individueller Krankheitsbilder in mathematischen Formeln mit ökonomischer Transparenz verwandelt werden soll, daran zu erinnern.


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