Prof. Dr. med. Ulrich Hegerl, Leipzig
Durch geschicktes Marketing hat die von Kirsch et al. (Department of Psychology, University of Hull, Großbritannien) vorgelegte Studie „Initial Severity and Antidepressant Benefits: A Meta- Analysis of Data Submitted to the Food and Drug Administration“ [PLoS Med 2008;5:e45] ein großes Medienecho erzielt. Insbesondere in öffentlichen Äußerungen und Diskussionen wird der Eindruck erweckt, dass Antidepressiva unwirksam sind. Dies führt zu einer Verunsicherung auf Seiten der Patienten und auch mit der Materie nicht vertrauter Kollegen, einer Verschlechterung der Compliance sowie Erklärungsbedarf gegenüber mit Antidepressiva behandelten Patienten.
In der Meta-Analyse wurde lediglich eine kleine Auswahl von Studien für einige wenige Antidepressiva (Fluoxetin, Venlafaxin, Nefazodon, Paroxetin) berücksichtigt, wobei eine Substanz (Nefazodon) in Deutschland nicht mehr zugelassen ist. Bezüglich des Ergebnisses der Meta-Analyse ist festzuhalten, dass sich bei den mit Antidepressiva behandelten Patienten eine deutliche Besserung der depressiven Symptomatik zeigte (mehr als 9 Punkte in der Hamilton Depression Rating Scale). Weiter war dieser Rückgang der depressiven Symptomatik statistisch signifikant größer als der Rückgang der depressiven Symptomatik unter Plazebo. Dies bestätigt die prinzipielle Wirksamkeit der Antidepressiva.
Herausgestellt wurde in der Diskussion nun, dass der Unterschied zwischen dem Rückgang der depressiven Symptomatik unter dem Antidepressivum und dem Rückgang unter Plazebo bei Patienten mit leichteren Depressionen relativ gering war (weniger als 3 Punkte in der Hamilton Depression Rating Scale) und damit die Größe des klinischen Effekts nicht ausreichend ist. Diese Schlussfolgerung ist jedoch unzulässig oder zumindest problematisch. In den hier berücksichtigten Zulassungsstudien geht es nicht um den Nutzen eines Antidepressivums im Versorgungsalltag, sondern um den prinzipiellen Wirksamkeitsnachweis. Rückschlüsse auf die Effizienz der Antidepressiva im Versorgungsalltag sind aus mehreren Gründen nur sehr eingeschränkt möglich:
Der in modernen Studien durchgeführte Betreuungsaufwand für die teilnehmenden Patienten ist immens. Es erfolgt eine intensive Betreuung, Befragung und Beobachtung verbunden mit Zuwendung und Hoffnungsvermittlung. Dies erklärt zum Teil die sehr hohen Plazebo-Response-Raten (bis zu 50 %) in diesen Studien, die es für das Antidepressivum schwer machen, sich von Plazebo abzuheben. Im Versorgungsalltag ist eine derart hohe Plazebo-Response-Rate nicht zu erwarten, da die versorgenden Ärzte in keiner Weise in der Lage sind, einen entsprechenden Aufwand zu betreiben. Zudem ist es fraglich, ob ohne eine spezifische Behandlung in ähnlicher Weise Hoffnung vermittelt werden kann wie durch die Gabe von Plazebo-Tabletten. Die Konsequenz wird sein, dass im Versorgungsalltag die Differenz in der Besserung zwischen den mit einem Antidepressivum behandelten Patienten und denen, die nicht spezifisch behandelt werden, deutlich größer ist.
Viele der in diesen Studien eingeschlossenen Patienten sind bereits vorher medikamentös behandelt worden. Hierdurch ergibt sich das Problem, dass insbesondere Patienten eingeschlossen werden, die durch die Vorbehandlung nicht beschwerdefrei geworden sind, sondern immer noch unter Depressionen leiden. Dies führt zu einer Anhäufung von Antidepressiva-Non-Respondern in diesen Studien und die Ergebnisse fallen schlechter aus als im Versorgungsalltag.
Im Versorgungsalltag wird im Rahmen einer guten ärztlichen Betreuung nach zwei Wochen geprüft, ob sich eine Besserung in der depressiven Symptomatik zeigt. Ist dies nicht der Fall, wird die Dosis erhöht oder auf ein anderes Antidepressivum mit einem anderen Wirkungsmechanismus umgestellt. Hierdurch erhöht sich die Chance, dass das für den individuellen Patienten optimale Medikament und die optimale Dosierung gefunden werden. Derartige Anpassungen an den einzelnen Patienten sind in den hier untersuchten Studien nicht möglich, sodass auch hier der tatsächliche Nutzen der Antidepressiva unterschätzt wird.
Durchgeführt werden die hier berücksichtigten großen multizentrischen Studien durch privatwirtschaftlich geführte Firmen, die pro eingeschlossenen Patienten einen bestimmten Geldbetrag erwirtschaften. Auf Seiten der Patienten besteht insbesondere in den USA und anderen Ländern ohne breiten Krankenversicherungsschutz nicht selten der Wunsch, in derartige Studien eingeschlossen zu werden und so eine kostenlose medizinische Betreuung zu erhalten. Hieraus speist sich der Verdacht, dass ein nicht geringer Anteil der in diese Studie eingeschlossenen Patienten die Einschlusskriterien nicht erfüllt. Dies führt zu einer Verwässerung der Ergebnisse und einem erhöhten Rauschen in den Daten, sodass es für das Antidepressivum noch schwieriger wird, sich gegenüber Plazebo abzuheben.
Unseriös ist, dass der Erstautor dieser Arbeit als Alternative Psychotherapie empfiehlt, da ein ähnlich strenger Wirksamkeitsnachweis wie für Antidepressiva für psychotherapeutische Interventionen erst recht nicht erbracht ist und auch schwierig zu erbringen ist, da eine verblindete Kontrollbedingung mit Plazebo-Charakter aus methodischen Gründen nicht zu realisieren ist. Die in vielen Psychotherapie-Studien verwendeten Wartegruppen oder unspezifischen supportiven Gruppen führen auf Seiten der Patienten eher zu Frustration und Enttäuschung, sodass es für die spezifische Psychotherapie nicht schwer ist, sich hiergegenüber abzuheben.
Die entstandene Diskussion über die Wirksamkeit und Effizienz der Antidepressiva erfolgt vor dem Hintergrund der noch anhaltenden Diskussion über eine mögliche Suizid-induzierende Wirkung der Antidepressiva bei Kindern und Jugendlichen. Letztere Diskussion hat in den USA zu einer 20%igen Abnahme der Verschreibung von Antidepressiva bei Kindern und Jungendlichen geführt. Im Jahr 2007 wurde nun eine methodisch sorgfältige Studie publiziert [Gibbons RD, et al.], die zeigte, dass genau in diesem Jahr und in der Altersgruppe mit dem stärksten Rückgang in der Verschreibung der Antidepressiva erstmals seit Jahrzehnten wieder eine deutliche Zunahme der Suizidraten zu beobachten war. Dies unterstreicht, dass auch Warnungen risikobehaftet sein können, insbesondere wenn sie tendenziös in die Öffentlichkeit getragen werden.
Nicht berücksichtigt wurde in der öffentlichen Diskussion, dass die rückfallverhütende Wirksamkeit der Antidepressiva sehr eindrücklich belegt ist. Das Risiko eines Rückfalls lässt sich gegenüber Plazebo halbieren oder sogar dritteln.
Antidepressiva haben sicherlich nicht alle Eigenschaften, die wir uns wünschen würden. Problematisch sind die Wirkungslatenz von etwa 2 Wochen, die Nebenwirkungen, die bisweilen die Umstellung auf ein anderes Antidepressivum erforderlich machen, und die Nonresponse-Raten von 30 bis 50 %, die einen erneuten Anlauf mit Umstellung auf ein anderes Antidepressivum oder Augmentationsstrategien notwendig machen. Auch bei Berücksichtigung dieser Nachteile sind Antidepressiva unverändert ein zentraler Bestandteil in der Behandlung unserer Patienten. Der in vielen Ländern zu beobachtende inverse Zusammenhang zwischen Änderungen der Suizidraten und Änderungen der Antidepressiva-Verschreibungen erlaubt zwar keinen Rückschluss auf einen Kausalzusammenhang, legt diesen aber doch zumindest nahe.
Quellen
Kirsch I, Deacon BJ, Huedo-Medina TB, Scoboria A, et al. Initial severity and antidepressant benefits: a meta-analysis of data submitted to the Food and Drug Administration. PLoS Med 2008;5:e45.
Gibbons RD, Brown CH, Hur K, Marcus SM, et al. Early evidence on the effects of regulators‘ suicidality warnings on SSRI prescriptions and suicide in children and adolescents. Am J Psychiatry 2007;164:1356–63.
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