Prof. Dr. med. Frank Lammert, Homburg
In den letzten Jahren hat sich die Therapie der Hepatitis-C-Virus-(HCV-)Infektion kontinuierlich verbessert, zunächst durch Einführung von Interferon alfa in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts, dann durch die Kombination mit Ribavirin, dessen molekulare Wirkungsmechanismen bis heute nicht vollständig aufgeklärt sind. Mit der Kombination von pegyliertem Interferon alfa (Peginterferon) und Ribavirin konnten Heilungsraten bis 50% beim häufigen HCV-Genotypen 1 erzielt werden, die interessanterweise signifikant von Varianten des IL28B-Gens (kodiert Interferon lambda) des Patienten abhängen. Die kürzlich publizierten Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS; www.dgvs.de) und der European Association for the Study of the Liver (EASL; https://easl.eu) fassen die aktuellen Therapieempfehlungen bei Patienten mit akuter und chronischer Hepatitis C konzise zusammen und verdeutlichen die hierbei mögliche Individualisierung der Therapiedauer in Abhängigkeit von der initialen Kinetik der Viruselimination.
Dennoch sind die aktuellen Leitlinien bereits zum Zeitpunkt der Veröffentlichung überholt: Aktuelle Publikationen von Phase-III-Studien (SPRINT-2, RESPOND-2, ADVANCE, REALIZE) im New England Journal of Medicine belegen, dass Inhibitoren der viralen NS3/4A-Protease die Effektivität der bisherigen Kombinationstherapie entscheidend steigern können. Die Einbindung der Proteaseinhibitoren in die antivirale Therapie erhöht die Heilungsraten bei bisher nicht behandelten Patienten oder Patienten mit Relapse in der Vortherapie auf über 70%. Seitdem die beiden Medikamente Boceprevir (Victrelis®) und Telaprevir (Incivo®) im Juli bzw. September 2011 zugelassen wurden, werden sie in kontinuierlich steigendem Umfang vielen der weltweit über 170 Millionen mit HCV infizierten Patienten verschrieben. Dies spiegelt sich beispielsweise darin wider, dass der Umsatz von Telaprevir allein im 3. Quartal 2011 420 Millionen Dollar erreichte und das Medikament damit auf dem Weg ist, der schnellste Blockbuster in der Geschichte der Entwicklung neuer Arzneimittel zu werden.
Und dies, obgleich beide Medikamente Patient und Arzt vor besondere Herausforderungen stellen: Eine große Zahl von Tabletten muss sehr regelmäßig, bevorzugt mit einer (fettreichen) Mahlzeit eingenommen werden, um ausreichende Wirkspiegel zu gewährleisten; der verschreibende Arzt ist gezwungen, sich auf dermatologische Nebenwirkungen (von Rash-artigen Hautausschlägen bis zum Stevens-Johnson-Syndrom) einzustellen und ausgeprägten Anämien mit Transfusionen oder Epoetin (in Deutschland für diese Indikation nicht zugelassen) zu begegnen. Wichtig ist es in dieser Situation, die Therapie nicht mit einer reduzierten Dosis des Proteaseinhibitors fortzuführen und die neuen Stoppregeln zu beachten, um der Entwicklung resistenter Viren vorzubeugen. Beide Proteaseinhibitoren sind zudem durch mannigfaltige Arzneimittelinteraktionen gekennzeichnet, da sie wie zahlreiche andere Wirkstoffe durch das P-Glykoprotein transportiert und über Cytochrom P450-3A4 metabolisiert werden.
Kürzlich wurde der Nutzen von Boceprevir im Rahmen des neuen systematischen Verfahrens gemäß Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) bewertet: Für die Indikation therapieerfahrener und therapienaiver Patienten ohne Zirrhose besteht nach Beurteilung des IQWiG ein Hinweis auf einen Zusatznutzen, dessen Ausmaß nicht quantifizierbar sei, von Boceprevir + Peginterferon + Ribavirin gegenüber Peginterferon + Ribavirin. Die Studien zu Boceprevir lieferten aber keine verwertbaren Ergebnisse für die Indikation bei Patienten mit Zirrhose, bei denen die Effektivität der Proteaseinhibitoren geringer ist, häufiger mit Komplikationen zu rechnen ist und das Auftreten von Infektionen begünstigt werden kann. Insgesamt wird deutlich, dass für die Zukunft insbesondere Studien mit den neuen Medikamenten bei schwer zu behandelnden Patienten (Zirrhose, Koinfektionen, Kinder, nach Lebertransplantation, seltene HCV-Genotypen) zu fordern sind. Unklar bleibt, warum das IQWiG das Ausmaß des Zusatznutzens als nicht quantifizierbar einschätzt, da die Bedeutung des Endpunkts „dauerhaftes virologisches Ansprechen“ (sustained viral response, SVR) und damit der Heilung für den weiteren Verlauf der Erkrankung – ebenso wie bei anderen potenziell tödlichen Infektionskrankheiten – als gesichert anzusehen ist.
Die „Pipeline“ der Arzneimittelhersteller ist gefüllt: Auf dem Jahreskongress der American Association for the Study of Liver Diseases (AASLD) im November 2011 wurden weitere Studien vorgestellt, bei denen kein Interferon mehr eingesetzt wird. Diese Behandlung wird von vielen Patienten, die die grippeartigen, hämatologischen und neuropsychiatrischen Nebenwirkungen der Interferon-basierten Kombinationstherapie fürchten, dringlich erwartet. Die Kombination von NS5A-Inhibitor und NS3/4A-Proteaseinhibitor war beispielsweise bei Patienten mit Genotyp 1, die auf eine Vortherapie nicht angesprochen hatten, wirksam, und die Kombination des spezifischen Nukleosid-analogen Polymeraseinhibitors PSI-7977 mit Ribavirin erreichte sogar bei allen Patienten mit Genotyp 2/3 (n=10) nach nur 12 Wochen ein dauerhaftes virologisches Ansprechen. Aufgrund der Studienergebnisse mit PSI-7977 und weiteren neuen „direct antiviral agents“ (DAA) kaufte das US-Biotechnologie-Unternehmen Gilead die Herstellerfirma Pharmasset kürzlich für 11 Milliarden Dollar – in der Hoffnung, in wenigen Jahren die Zulassung für eine Interferon-freie Therapie der Hepatitis C erreichen zu können. Unklar ist, ob es gelingen wird, eine gut verträgliche „Jumbo-Pille“ herzustellen, die mehrere Wirkstoffe bei guter Verträglichkeit enthält und die Mehrzahl der Patienten heilt, oder ob die Therapie der chronischen Hepatitis C aufgrund der komplexen Interaktionen und unerwünschten Arzneimittelwirkungen künftig in der Hand weniger ausgewiesener Spezialisten liegen wird.
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