Pharmakotherapie in der Neurologie: Haben wir die Decke erreicht?


Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen

[Foto: privat]

Die klinische Neurologie war bis vor 30 Jahren ein Fach mit großen intellektuellen Ansprüchen, aber geringen therapeutischen Optionen. Dies hat sich in der Zwischenzeit dramatisch verändert. Für sehr viele neurologische Krankheiten gibt es in der Zwischenzeit wirksame oder hoch wirksame medikamentöse Therapien. Im Folgenden soll exemplarisch dargestellt werden, dass es aber durchaus Bereiche innerhalb der Neurologie gibt, bei denen man das Gefühl hat, dass ein gewisser Stillstand in der Entwicklung neuer Medikamente besteht.

Ein typisches Beispiel ist die Epileptologie. Bis vor 15 Jahren gab es nur die drei klassischen Antiepileptika Phenytoin, Carbamazepin und Valproinsäure. In der Zwischenzeit gibt es 18 Antiepileptika für fast jede Unterform von Epilepsien. Hier stellt sich die Frage, ob die Entwicklung weiterer Antiepileptika wirklich gerechtfertigt ist und ob es hier einen therapeutischen Zugewinn für Patienten gibt. Eine ähnliche Entwicklung gibt es in der Therapie der multiplen Sklerose (MS). Bis vor 10 Jahren gab es zur immunmodulatorischen Therapie der MS nur Azathioprin. Als nächstes kamen die Beta-Interferone und Glatirameracetat, gefolgt von hoch wirksamen Biologicals wie Natalizumab und den neuen oral wirksamen Immunmodulatoren Teriflunomid und Fingolimod. Aus der Therapie der Psoriasis wechselte Fumarat in das therapeutische Spektrum der schubförmigen MS. Die therapeutischen Fortschritte sind hier immens, die Schubraten können dramatisch vermindert werden. Für die meisten dieser Medikamente steht allerdings noch der Beweis aus, dass sie tatsächlich langfristig den Krankheitsverlauf verlangsamen. Die chronisch-progrediente MS ist – wie sich in der Zwischenzeit gezeigt hat – biologisch eine andere Erkrankungsform, was auch erklärt, warum die Substanzen, die bei der schubförmigen MS hoch wirksam sind, bei diesem Krankheitsbild keine ausreichende Wirkung haben. Hier steht die Entwicklung neuer Medikamente aus.

Beim Morbus Parkinson gibt es in der Zwischenzeit durch Levodopa und diverse Dop-aminagonisten eine sehr gute medikamentöse Therapie, mit der über 80% aller Patienten auch im fortgeschrittenen Stadium unter Erhalt einer guten Lebensqualität behandelt werden können. Wenn die medikamentöse Therapie nicht mehr ausreichend ist, kommen invasive Verfahren wie die tiefe Hirnstimulation zum Einsatz. Auch beim Morbus Parkinson steht bisher eine Therapie aus, die das Fortschreiten der Erkrankung verhindert. Ähnlich wie bei der Alzheimer-Krankheit liegt dies sehr wahrscheinlich daran, dass die pathologischen Proteinaggregate im Gehirn bereits 20 Jahre vor den ersten Symptomen kumulieren und zu einem Zeitpunkt, zu dem die Patienten klinisch auffällig werden, bereits 60 bis 70% der entsprechenden Neuronen im dopaminergen System zugrunde gegangen sind.

Noch trauriger ist die Situation bei der Behandlung des Morbus Alzheimer. Hier stehen mit den Cholinesterasehemmern zwar Substanzen zur Verfügung, die einen geringen symptomatischen Effekt haben, krankheitsmodulierende Therapien fehlen aber nach wie vor. Alle großen Studien in den letzten 10 Jahren verliefen negativ. Grund hierfür ist wahrscheinlich, dass die Pathophysiologie dieser Erkrankung immer noch nicht ausreichend verstanden wurde und dass Beta-Amyloid- und Tau-Aggregate möglicherweise nur Biomarker, aber nicht die biologische Grundlage sind.

Für die Behandlung des akuten ischämischen Insults gibt es mit der systemischen Thrombolyse, die bei bis zu 20% der Patienten angewendet werden kann, eine wirksame Therapie. Leider sind mehr als 170 Studien zur neuroprotektiven Therapie, die theoretisch für alle Patienten mit ischämischen Insulten infrage käme, negativ verlaufen. Dies hat sehr wahrscheinlich mit den hoch komplexen pathophysiologischen Abläufen nach Eintreten der zerebralen Ischämie zu tun, was erklären würde, warum Substanzen mit nur einem Angriffspunkt nicht wirksam sein können. Ähnlich viele negative Therapiestudien gibt es bei der amyotrophen Lateralsklerose. Auch hier sind die pathophysiologischen Konzepte sehr komplex, was ebenfalls erklärt, dass ein unimodaler therapeutischer Ansatz nicht wirksam sein kann.

Angesichts der Milliardensummen, die in den letzten 15 Jahren für die Durchführung großer Placebo-kontrollierter Studien in der Neurologie ausgegeben wurden, kann man nur hoffen, dass die pharmazeutische Industrie den Glauben an zukünftige Therapien nicht verliert, weiterhin neue therapeutische Ansätze entwickelt und die Wirksamkeit klinisch belegt. Diese Anstrengungen werden aber in Zukunft nur dann unternommen werden, wenn die Firmen damit rechnen können, dass sie für eine neu entwickelte wirksamere Substanz auch tatsächlich eine entsprechende Vergütung erhalten.

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