Antikörper gegen CGRP


Eine Revolution in der Migräneprophylaxe?

Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen

1993 gab es eine erste Revolution in der Migräne-Therapie, nämlich die Zulassung von Sumatriptan zur Behandlung akuter Migräneattacken. In der Folgezeit wurden dann noch sechs weitere Triptane zugelassen, von denen in der Zwischenzeit alle den Patentschutz verloren haben und von denen zwei rezeptfrei erhältlich sind (Naratriptan, Almotriptan). Die Einführung der Triptane bedeutete für viele Patienten mit Migräne, dass sie erstmals eine wirksame Therapie ihrer akuten Migräneattacken zur Verfügung hatten. Leider wurden bei der Markteinführung der Triptane falsche Erwartungen geweckt, da die Firmen in ihren Werbemaßnahmen und in ihrer Öffentlichkeitsarbeit unterstellten, dass mit der Einführung der Triptane das Problem der Migräne mehr oder weniger gelöst wäre. In der Folgezeit stellte sich dann heraus, dass keineswegs alle Patienten und alle Migräneattacken auf Triptane ansprechen, dass bei langanhaltenden Migräneattacken die Symptome wieder auftreten, wenn die Wirkung des Medikaments nachlässt, und dass eine zu häufige Anwendung von Triptanen zu einem „Übergebrauchskopfschmerz“ führen kann. Daher bestand unverändert die Notwendigkeit einer Migräneprophylaxe bei Patienten mit häufigen und schweren Migräneattacken.

Die bisherigen Substanzen zur Migräneprophylaxe (siehe Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft) [1] wurden fast ausschließlich zufällig entdeckt, da sie ursprünglich für eine andere Indikation eingesetzt wurden. Dies galt für die Behandlung der Hypertonie mit Betablockern, die Behandlung von Schwindel mit Flunarizin, die Behandlung der Epilepsie mit Topiramat oder Valproinsäure und die Behandlung von Depressionen mit trizyklischen Antidepressiva. Migränepatienten berichteten, dass diese Medikamente nicht nur die Grundkrankheit erfolgreich behandelten, sondern auch die Häufigkeit von Migräneattacken reduzierten. Dies war dann der Anlass, Placebo-kontrollierte Studien durchzuführen, die letztendlich zur Zulassung der entsprechenden Arzneimittel zur Migräneprophylaxe führten. All diese Substanzen sind zweifelsfrei wirksam, haben aber ein erhebliches Problem mit unerwünschten Arzneimittelwirkungen. Das erklärt, dass die Compliance nach 12 Monaten nur noch etwa 30 % beträgt. Bei einem Teil der Patienten ist dies durch eine gute Wirksamkeit der Medikamente erklärt, beim überwiegenden Anteil allerdings durch Nebenwirkungen.

Jetzt kommt eine neue Generation von Migräneprophylaktika auf den Markt, die ein völlig anderes und spezifisches Therapiekonzept darstellen. Bereits vor mehr als 20 Jahren wurde entdeckt, dass Calcitonin-Gene Related Peptide (CGRP) eine wichtige Rolle in der Pathophysiologie der Migräne spielt. Vor einigen Jahren wurden dann humanisierte Antikörper gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor synthetisiert und in klinischen Studien untersucht. In der Zwischenzeit liegen Placebo-kontrollierte Phase-II- und Phase-III-Studien zur Prophylaxe der episodischen und chronischen Migräne für vier dieser Antikörper vor (Eptinezumab, Erenumab, Fremanezumab, Galcanezumab). Sie sind in ihrer Wirksamkeit alle Placebo überlegen, sind aber in indirekten Vergleichen nicht wirksamer als traditionelle Migräneprophylaktika. Der wichtigste Vorteil, bedingt durch die hohe Spezifität der Antikörper mit einer fehlenden Interaktion mit anderen Neurotransmittern und Medikamenten, ist die extrem gute Verträglichkeit. In den großen Studien haben nur zwischen 2 und 4 % aller Patienten die Behandlung wegen unerwünschter Arzneimittelwirkung abgebrochen.

Was steht der praktischen Umsetzung dieser Revolution in der Migräneprophylaxe im Wege? Erenumab ist als erster Antikörper gegen den CGRP-Rezeptor in Europa zugelassen. In den Vereinigten Staaten liegen die Jahresbehandlungskosten bei 6700 Dollar, wobei im Moment nicht bekannt ist, wie hoch die Behandlungskosten in Deutschland sein werden. Es kann allerdings unterstellt werden, dass sie im Vergleich zu den traditionellen Migräneprophylaktika inklusive Botulinumtoxin bei chronischer Migräne erheblich sind. Im Moment ist daher nicht abzusehen, welche Migränepopulationen nach Beschluss der Krankenkassen und des gemeinsamen Bundesausschusses in den Genuss dieser neuen Therapie kommen. Es kann vermutet werden, dass dies Patienten mit chronischer Migräne oder sehr häufiger episodischer Migräne sind, bei denen die bisher verfügbaren Migräneprophylaktika nicht wirksam waren, nicht vertragen wurden oder kontraindiziert sind. Eine weitere ungelöste Frage ist die Langzeitsicherheit von Antikörpern gegen CGRP oder CGRP-Rezeptor. CGRP ist ein potenter Vasodilatator und spielt eine wichtige Funktion im respiratorischen Epithel und in der Darmmukosa. Aus diesem Grund wurden alle Patienten mit Gefäßerkrankungen, schwerwiegenden Erkrankungen des respiratorischen Systems und des Darms aus Studien ausgeschlossen. Ebenfalls ausgeschlossen wurden Schwangere und Frauen im gebärfähigen Alter ohne zuverlässige Kontrazeption. Welche Konsequenzen ein im Körper vorhandener monoklonaler Antikörper gegen CGRP oder CGRP-Rezeptor bei medizinischen Komplikationen oder Akutsituationen, wie einem akuten Koronarsyndrom, einem ischämischen Insult, einer Subarachnoidalblutung oder einer Störung der Blut-Hirn-Schranke bei einem Schädelhirntrauma oder einer Meningoenzephalitis, bewirkt, wird nur durch offene Langezeitstudien zu klären sein.

Bei aller Euphorie über die neuen Migräneprophylaktika sollte nicht vergessen werden, dass nichtmedikamentöse Ansätze der Verhaltenstherapie und eine Modifikation des Lebensstils genauso wirksam sind wie eine medikamentöse Prophylaxe [1].

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