Dr. Maja M. Christ, Stuttgart
Hier finden Sie die PDF-Version des Artikels.
Zunehmend werden zur Behandlung von Typ-2-Diabetes und Adipositas Glucagon-like-Peptide-1-Rezeptoragonisten (GLP-1-RA) eingesetzt. Nachdem die Europäische Arzneimittelagentur etwa 150 Spontanberichte zu möglicherweise mit den Arzneimitteln verbundene Selbstmord- und Selbstverletzungsgedanken erhalten hatte, leitete sie eine Untersuchung ein [1]. Im zentralen Nervensystem sind GLP-1-Rezeptoren vorhanden und GLP-1-RA passieren die Blut-Hirn-Schranke. Eine Wirkung von GLP-1-RA auf die Suizidalität wäre also generell plausibel. Bereits 2009 wurde die Zulassung für Rimonabant zur Gewichtskontrolle aufgrund der Assoziation mit Depressionen und Suizidgedanken zurückgezogen [2].
Zwei Veröffentlichungen aus dem Jahr 2024 geben Entwarnung für GLP-1-RA: eine Kohortenstudie aus Schweden und Dänemark von Ueda et al. sowie eine Post-hoc-Analyse von Daten aus dem STEP-Studienprogramm von Wadden et al. Erstere schloss vor allem Patienten mit Typ-2-Diabetes ein, die zweite vor allem mit Übergewicht bzw. Adipositas.
Tab. 1. Studiendesign Kohortenstudie [Ueda et al. 2024]
Erkrankung | Diabetes mellitus Typ 2 |
Studienziel | Zusammenhang zwischen der Anwendung von GLP-1-RA und Suizidrisiko bei erwachsenen Patienten im klinischen Alltag |
Studientyp | Register-Kohortenstudie |
Intervention |
|
Primärer Endpunkt | Tod durch Suizid |
Sponsor | Firmenunabhängig |
GLP-1-RA: Glucagon-like-Peptide-1-Rezeptoragonist; SGLT2i: Natrium-Glucose-Cotransporter-2-Inhibitor
Kohortenstudie
Studiendesign
Um den potenziellen Zusammenhang zwischen der Anwendung von GLP-1-RA und dem Risiko für Suizid zu untersuchen, führten Ueda et al. eine aktiv vergleichende Kohortenstudie mit Registerdaten aus Schweden und Dänemark durch (Tab. 1). Eingeschlossen wurden Erwachsene von 18 bis 84 Jahren, die zwischen 2013 und 2021 eine Behandlung mit einem GLP-1-RA oder Natrium-Glucose-Cotransporter-2-Inhibitor (SGLT2i) begonnen hatten. Primärer Endpunkt war ein in den Registern erfasster Tod durch Suizid. Sekundäre Ergebnisse umfassten die Kombination aus Suizid und nichttödlicher Selbstverletzung sowie die Kombination aus aufgetretenen Depressionen und Angststörungen.
Tab. 2. Studienergebnisse der Metaanalyse (Auswahl) [Ueda et al. 2024]
Endpunkt | GLP-1-RA | SGLT2i | Hazard-Ratio (95%-KI) | ||
Anteil [%] | Inzidenz (pro 1000 PJ) | Anteil [%] | Inzidenz (pro 1000 PJ) | ||
Primärer Endpunkt | |||||
Suizid | 0,06 | 0,23 | 0,04 | 0,18 | 1,25 (0,83–1,88) |
Sekundäre Endpunkte | |||||
Kombination aus Suizid und nichttödlicher Selbstverletzung | 0,39 | 1,47 | 0,27 | 1,78 | 0,83 (0,70–0,97) |
Kombination aus Depressionen und Angststörungen | 6,78 | 25,8 | 5,26 | 25,4 | 1,01 (0,97–1,06) |
GLP-1-RA: Glucagon-like-Peptide-1-Rezeptoragonist; KI: Konfidenzintervall; PJ: Patientenjahre; SGLT2i: Natrium-Glucose-Cotransporter-2-Inhibitor
Studienergebnisse
124 500 Erwachsene begannen mit der Anwendug eines GLP-1-RA und 174 000 mit der eines SGLT2i. Erstere waren im Mittel 60 Jahre alt, 45 % waren weiblich. Die am häufigsten verwendeten GLP-1-RA waren Liraglutid (50 %) und Semaglutid (41 %). Während der durchschnittlichen Nachbeobachtungszeit von 2,5 Jahren traten unter GLP-1-RA 77 und unter SGLT2i 71 Suizide auf (Hazard-Ratio [HR] 1,25; Tab. 2). Das HR für Selbstmord und nichttödliche Selbstverletzung betrug 0,83 sowie für Depressionen und Angststörungen 1,01.
Tab. 3. Studiendesign Post-hoc-Analyse [Wadden et al. 2024]
Erkrankung | Übergewicht/Adipositas |
Studienziel | Einfluss einer Therapie mit Semaglutid auf das Risiko für Depression oder Suizidgedanken/-verhalten im Vergleich zu einem Placebo bei übergewichtigen oder adipösen Menschen ohne bekannte schwerwiegende Psychopathologie |
Studientyp | Post-hoc-Analyse mit gepoolte Daten aus den randomisierten, doppelblinden, Placebo-kontrollierten, multizentrischen Studien STEP 1, 2 und 3 (68 Wochen Dauer, Phase IIIa) und STEP 5 (104 Wochen Dauer, Phase IIIb) |
Patienten | 3681 Erwachsene |
Intervention |
|
Primärer Endpunkt | Depressive Symptome und Suizidgedanken/suizidales Verhalten, erfasst mithilfe des Patient Health Questionnaire 9 und der Columbia-Suicide Severity Rating Scale |
Sponsor | Novo Nordisk |
Studienregister-Nr. | STEP 1: NCT03548935, STEP 2: NCT03552757, STEP 3: NCT03611582, STEP 5: NCT03693430 (ClinicalTrials.gov) |
Post-hoc-Analyse des STEP-Studienprogramms
Studiendesign
In die Post-hoc-Analyse wurden gepoolte Daten aus den Studien STEP 1, 2 und 3 (68 Wochen Dauer) und STEP 5 (104 Wochen Dauer) eingeschlossen (Tab. 3). Studienteilnehmer waren Erwachsene mit Übergewicht oder Adipositas; in STEP 2 zusätzlich mit Typ-2-Diabetes. Sie erhielten entweder Semaglutid oder Placebo. Depressive Symptome und Suizidgedanken/-verhalten wurden mit dem Patient Health Questionnaire (PHQ-9) bzw. der Columbia-Suicide Severity Rating Scale bewertet.
Studienergebnisse
Die Analyse umfasste 3377 Teilnehmer der Studien STEP 1, 2 und 3 (mittleres Alter 49 Jahre, 70 % weiblich) und 304 Teilnehmer der Studie STEP 5 (mittleres Alter 47 Jahre, 78 % weiblich). In den Studien STEP 1, 2 und 3 lagen die mittleren PHQ-9-Basiswerte für die Semaglutid- und Placebo-Gruppe bei 2,0 (± 2,3) und 1,8 (± 2,3), was auf keine bzw. minimale Depressionssymptome hinweist. Nach 68 Wochen lagen die Werte bei 2,0 (± 2,9) bzw. 2,4 (± 3,3) (geschätzter Behandlungsunterschied −0,56; 95%-Konfidenzintervall −0,81 bis −0,32; p < 0,001). Bei Teilnehmern, die mit Semaglutid behandelt wurden, war es weniger wahrscheinlich, dass sie bis Woche 68 in eine schwerere Kategorie der PHQ-9-Depression wechselten (Odds-Ratio 0,63; 95%-Konfidenzintervall 0,50–0,79; p < 0,001).
Basierend auf der Columbia-Suicide Severity Rating Scale zeigten ≤ 1 % der Teilnehmer Suizidgedanken/-verhalten während der Behandlung, unabhängig davon, ob sie Placebo oder Semaglutid erhielten. Unerwünschte Ereignisse im Zusammenhang mit psychischen Störungen traten in beiden Gruppen ähnlich häufig auf. Die Ergebnisse aus STEP 5 unterschieden sich nicht von denen der anderen Studien.
Fazit
Unter den GLP-1-RA-Anwendern in der Kohortenstudie traten Suizide selten auf. Die Studie, in die vor allem Patienten mit Typ-2-Diabetes eingeschlossen waren, zeigte keinen Zusammenhang zwischen der Anwendung von GLP-1-RA und einem erhöhten Risiko für Selbstmord, Selbstverletzung oder Depressionen und Angststörungen. Die Autoren betonen jedoch, dass kleinere absolute Risikounterschiede in Bezug auf Suizid nicht ausgeschlossen werden könnten.
Gleichermaßen legen die Ergebnisse der Post-hoc-Analyse aus dem STEP-Studienprogramm nahe, dass eine Behandlung mit Semaglutid das Risiko der Entwicklung von Symptomen einer Depression oder von Suizidgedanken/-verhalten im Vergleich zu Placebo nicht erhöht. Es war sogar mit einer kleinen Verringerung der depressiven Symptome verbunden – das Ausmaß wurde von den Autoren als nicht klinisch bedeutsam angesehen, wenngleich es statistisch signifikant war.
Adipositas selbst ist mit einem erhöhten Risiko für depressive Störungen und anderen psychiatrischen Erkrankungen verbunden, insbesondere bei Menschen mit einem Body-Mass-Index (BMI) von ≥ 40 [3]. Menschen mit Adipositas sollten daher auf psychische Probleme hin überwacht werden, damit sie gegebenenfalls angemessene Unterstützung erhalten können.
Quelle
Ueda P, et al. GLP-1 receptor agonist use and risk of suicide death. JAMA Intern Med 2024;184:1301–12. doi: 10.1001/jamainternmed.2024.4369.
Wadden TA, et al. Psychiatric safety of semaglutide for weight management in people without known major psychopathology. Post hoc analysis of the STEP 1, 2, 3, and 5 trials. JAMA Intern Med 2024;184:1290–300. doi: 10.1001/jamainternmed.2024.4346.
Literatur
1. Europäische Arzneimittelagentur (EMA). EMA statement on ongoing review of GLP-1 receptor agonists. 11. Juli 2023. www.ema.europa.eu/en/news/ema-statement-ongoing-review-glp-1-receptor-agonists (Zugriff am 13.01.25).
2. Europäische Arzneimittelagentur (EMA). Acomplia. www.ema.europa.eu/en/medicines/human/EPAR/acomplia (Zugriff am 13.01.25).
3. Luppino FS, et al. Overweight, obesity, and depressiona systematic review and meta-analysis of longitudinal studies. Arch Gen Psychiatry 2010;67:220–9.
Erhalten Sie jetzt uneingeschränkten Zugriff auf:
- Alle Fachartikel in der AMT
- Regelmäßige zertifizierte Fortbildungen
- Aktuelle Informationen zu neuen Arzneimitteln – von Experten kommentiert